Werbung ist keine Realität

Wer gehört zu Deutschland?

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer kritisierte auf Facebook die aktuelle Werbekampagne der Bahn. Darauf sind vermeintliche (prominente) Fahrgäste zu sehen, deren Erscheinungsbild auf Migrationseinflüsse schließen lässt. Er fragte daraufhin in seinem Posting: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“. Die Vorstände seiner Partei (Die Grünen) sagten zu der Äußerung: „Er hat Menschen nach äußeren Merkmalen beurteilt und die Frage, wer zu unserer Gesellschaft gehört, daraus abgeleitet. Beides ist nicht richtig.“ Palmers Post und weitere Meinungen im Internet zielen darauf ab, dass in Deutschland mehr hellhäutige Menschen leben und diese in der Werbung unterrepräsentiert seien. Der Oberbürgermeister ist für gezielt polarisierende Aussagen bekannt, die eine Debatte nach sich ziehen. Diesmal standen Rassismusvorwürfe im Raum.  

Lächerlich und nicht authentisch

Der Bahn steht es frei, ein multikulturelles Bild von sich zu zeichnen. Und so falsch ist das „Bild“ dabei nicht. Ich habe einen afroamerikanischen Hintergrund und bin in Deutschland aufgewachsen. Wenn ich meine amerikanischen Verwandten besuche, merke ich jedes Mal wie „deutsch“ ich bin. Kultur definiert sich nicht (nur) durch die Hautfarbe, die Haarstruktur oder andere Phänotypen. Dieser Gedanke ist so simple, dass ich nicht glauben kann, wenn eine Gesellschaft das immer noch nicht verstanden hat.
Dennoch - stehen solche Vorwürfe im Raum verblasst daneben vieles. So fällt beispielsweise die Frage nach Authentizität und Werbung unter den Tisch beziehungsweise geht sie im öffentlichen Diskurs verloren. Da Palmers Aussage aus meiner Sicht einfach nur lächerlich ist, möchte ich auf diesen erweiterten Aspekt der Werbung eingehen. Denn diese zielt auf die Wahrnehmung unserer heutigen Gesellschaft ab und entzieht dem Vorwurf „die Bahn zeichne ein falsches Bild“ schon die Grundlage. 

Wird Werbung tatsächlich eine Realität unterstellt?

Realitätscheck: Menschen wenden sich in der Bahn von einander ab
Realitätscheck: Menschen wenden sich in der Bahn von einander ab

Glaubt die Gesellschaft wirklich, was in der Werbung abgebildet ist? Wäre dem so, dann befinden sich auf Dating-Plattformen nur intelligente, gutaussehende Menschen und wer bestimmte Automarken fährt, hat immer freier Fahrt, eine fantastische Natur um sich herum und trifft keine anderen Autofahrer.
Die meisten Werbungen sind unrealistisch und bilden eine „Wunsch“-Welt ab.

Die Grundidee eines Werbespots orientiert sich an einer realistischen Situation, damit ein gewisser Identifikationswert geschaffen wird. Im Falle der Bahn eine Menschengruppe im Zug. Bei einer Datingwerbung, der Single, der alleine kocht oder bei einer Autowerbung, das Auto in der Hofeinfahrt.
Dieser Grundgedanke wird dann weitergetragen und optimiert sowie idealisiert. Zum Beispiel hat die Menschengruppe in der Bahnwerbung Spaß. Also, ich habe noch nie gesehen, dass fremde Menschen in der Bahn miteinander Spaß haben und sich freuen, zusammenzustehen. In der Werbung für Singles meldet sich natürlich der gutaussehende Typ oder die superschlanke Frau zum Date und bei Automarken ist die Straße immer frei und das Auto blitzeblank. 

Authentizität

Werbung ist so realitätsfern, dass Authentizität schon zum USP, also zum Alleinstellungsmerkmal wird. Dabei denke ich beispielsweise an die Marke Dove. In den Werbespots wird ausdrücklich auf echte Menschen mit echten Körpern hingewiesen. Der Claim lautet: „Meine Schönheit ist meine Entscheidung“. Die Marke erweitert damit das gängige Schönheitsideal. Mit den dazugehörigen Werbekampagnen möchte sich die Marke durch vermeintliche Authentizität von der Konkurrenz abgrenzen. 

Die Bahn darf das

Kommen wir zurück zur Deutschen Bahn. Wann war Bahnwerbung jemals authentisch? Die Bahn warb vor Jahren schon mit dem Slogan: Die Bahn kommt. Wie oft kam sie nicht?! Und mit Glück lediglich zu spät statt überhaupt nicht. Und was ist mit dem freundlichen Schaffner? Mal ehrlich, wie oft hast du einen engagierten, freundlichen Schaffner in der Bahn getroffen. Das ist so selten, dass ich mich an jedes einzelne Mal, wenn es so war, erinnern kann. 
Der ursprüngliche Vorwurf, die Bahn zeichne in ihrer Kampagne ein falsches Bild, impliziert somit, dass Werbung einen Stellenwert in der Gesellschaft trägt, der von vielen als Realität betrachtet wird bzw. wird Werbung so viel Einfluss unterstellt, dass Fiktion zu Realität wird. 

Kennzeichnungspflicht

Diese Problematik trägt sich schon durch einiger Zeit durch nicht offensichtliche Werbeformen: Bei Werbung durch Influencern besteht seit einiger Zeit eine Kennzeichnungspflicht, im Print müssen nicht offensichtliche Werbeformen markiert werden und auch im TV finden wir links oben in der Ecke die Bezeichnung „Produktplatzierung“. Wie es scheint benötigen klassische Plakatwerbung oder Anzeigen inzwischen auch den deutlichen Hinweis, dass es sich um Werbung handelt, und gleichzeitig einen Hinweis, dass Werbung nicht zwangsweise die Realität abbilden muss.
Ebenfalls sollten wir überlegen, ob gezielt gestreute polemische, kontroverse Äußerungen ebenfalls gekennzeichnet werden sollten. Aussagen wie die des Tübinger Oberbürgermeisters haben lediglich ein Ziel: Aufmerksamkeit für die eigene Person zu schaffen. Und das ist ebenfalls Werbung!